Lacan verstehen: Das linguistische Andere




Zwei Freunde streiten sich. Der Anlass des Streits ist eigentlich belanglos, es geht darum ob Kühlschränke, die mit einer hohen Energieeffizienzklasse ausgestattet sind, die Umwelt tatsächlich schonen oder lediglich Symbolpolitik sind, um von den eigentlichen, strukturellen Problem abzulenken. Die Diskussion hat harmlos angefangen aber irgendwann haben sich beide so in das Thema hineingesteigert, dass sie eigentlich gar nicht mehr wissen worum es eigentlich geht. In dieser hitzigen Debatte also, setzt einer der beiden zu einem verbalen Gegenschlag an, der diese Streiterei ein für alle mal beenden soll, ihm reicht es nämlich: "Ich kann wirklich nicht glauben, dass du auf so einen Schwachsinn hereinfällst. Ich hab dich für dümmer gehalten." Ein kurzer Moment vergeht, bevor beide merken was gerade passiert ist. "...ich meinte natürlich klüger..." fügt er schnell hinzu aber es ist zu spät. Der Versprecher steht im Raum. 

Diskurs ist nie Eindimensional. Ein Versprecher erinnert uns sofort daran, dass mehr als ein Diskurs dasselbe Sprachrohr, zur selben Zeit verwenden kann (Fink 1996, S.3)
Zwei verschiedene Dimensionen des Diskurses (oder; zwei verschieden Sprecharten), sind sich hier in die Quere gekommen: Der gewollte Diskurs und der ungewollte Diskurs. Während es im gewollten Diskurs darum geht, was der Sprecher gemeint hat und was er versucht hat zu sagen, geht es im ungewollten Diskurs (der hier die Form des Versprechers angenommen hat) darum was der Sprecher eigentlich nicht sagen wollte, ihm aber unabsichtlich herausgerutscht ist. Hält unser Protagonist seinen Freund in Wirklichkeit für dümmer? Oder war er der Debatte so überdrüssig, dass ihm, in dem Versuch diese zu Beenden, ausversehen das falsche Wort herausgerutscht ist?

Die Psychoanalyse geht davon aus, dass wenn wir unabsichtliche Geräusche, Wörter oder Sätze von uns geben, die wir eigentlich nicht sagen wollten, diese von einem anderen Ort kommen, der nicht das Ego, nicht das Selbst ist: das sogenannte Andere. Und genau diese Versprecher (oder Fehlleistungen) sind es, die gelegentlich die Fassade des Egos durchbrechen und uns einen Einblick Hinter die Kulissen unseres Selbst gewähren. 
Wenn unser Leben ein Puppenspiel der Augsburger Puppenkiste wäre, dann wäre unser Selbst, die Puppe die immer nach vorne sieht, ihren Kopf nicht bewegen kann und demnach auch nicht die Fäden sehen kann, die sie kontrolliert. Da diese Fäden schon immer da waren, kennen wir es nicht anders und messen ihnen auch keine Bedeutung zu. Die Fäden sind in diesem Fall das (linguistische) Andere, dass unsere Bewegungen (bzw. unsere Sprache lenkt) und die Psychoanalyse ist der außenstehende Beobachter, der die Fäden sehen kann und versucht dem Ursprung dieser Fäden auf die Spur zu kommen.

Das linguistische Andere

Für Lacan sieht die Sache Folgendermaßen aus: Wir werden in einen Diskurs (bzw. in eine Sprache) hineingeboren ohne eine richtige Wahl zu haben. Diese Sprache wird von unseren Eltern verwendet, während sie sich auf unsere Geburt vorbereiten. Sie geben uns Namen, sie reden über unser Zimmer in dem wir zukünftig schlafen werden und sie reden über unsere Zukunft, die sie sich für uns wünschen. Und vor unseren Eltern, haben die Eltern unserer Eltern genau dasselbe gemacht. Und deren Eltern davor auch. Die Sprache die sie verwenden, folgt einer jahrhundertealten Tradition. Lacan nennt dies das linguistische Andere (l'Autre du language).
Wir werden also in eine Sprache hineingeboren, die wir uns vielleicht als Strampelanzug vorstellen können, den uns unsere Eltern extra für unsere Geburt genäht haben: Der Stoff dieses Strampelanzugs besteht aus sprachlichen Normen (wie Tabus, Wörter die wir bei bestimmten Gelegenheiten sagen dürfen, Wörter die wir gar nicht sagen dürfen, Wörter die nur Erwachsene sagen dürfen), die Naht besteht aus gesellschaftlichen Normen (wie Small-Talk, Knigge, Flirten) und der Strampelanzug wird von unseren lieben Eltern natürlich extra für unsere Proportionen angepasst (die passenden Maße symbolisieren in diesem Fall, dass uns unsere Eltern ihre persönlichen Werte, ihre Erziehung und ihre eigene Sprache mithilfe der Sprache beibringen). Der Strampelanzug besteht also aus der Gesamtheit der Sprache und in genau diesen Strampelanzug werden wir hineingesteckt.

Ein Kind wird also in einen vorherbestimmten Ort im sprachlichen Universum der Eltern geboren, ein Ort der oft monatelang, wenn nicht sogar jahrelang vorbereitet wird, bevor das Kind das erste Mal Tageslicht erblickt (Fink 1996, S.5) 
Aber wieso müssen die Kinder die Sprache lernen? Um sich zu verständigen. 
Um ihre Bedürfnisse und Wünsche auszudrücken. Bevor das Kind sprechen kann und es ihm lediglich möglich ist, seine Bedürfnisse durch weinen und schreien auszudrücken, ist es von der Interpretation der Eltern abhängig und muss darauf hoffen, dass die Eltern die richtigen Schlüsse ziehen. Solange das Kind sich nicht verständigen kann, besitzen die Eltern die Deutungshoheit darüber, was das Kind von ihnen möchte und was nicht. 
Und hier kommt das linguistische Andere ins Spiel, dass sich als ungebetener Gast einschleicht und uns hilft unsere Wünsche zu übermitteln.

Das Andere als eine Sprache wird von den Kindern aufgenommen, weil sie versuchen die Brücke zwischen unartikulierbaren Bedürfnissen, die lediglich gut oder schlecht interpretiert werden können, und das Artikulieren dieser Bedürfnisse in einer sozial akzeptierten Form, zu schließen (Fink 1996, S.6)

Das Problem dabei ist, dass unsere Sprache wie eine Maschine funktioniert, die ein seltsames Eigenleben führt. Wie ein Werkzeug, dass wir nicht so richtig kontrollieren können. Die Sprache entspringt nicht aus uns selbst, die Sprache gehört uns nicht, sondern wir nehmen sie lediglich auf. Von unseren Eltern, als kleines schreiendes etwas, das versucht seine Wünsche zu vermitteln. Unsere Wünsche und Bedürfnisse werden in eine Form gepresst, die uns von oben herab aufgedrückt wurde.
Das perfide zwischen dem Hilfsmittel der Sprache als Kommunikationsmittel und anderen Hilfsmitteln, wie z.b einer Brille bei Sehbehinderten oder einem Hörgerät bei Tauben, ist, dass wir auf letzteres (zumindest in den meisten Fällen) erst im Verlauf unseres Lebens angewiesen sind. Wir haben also die bewusste Erfahrung gemacht wie es vorher ohne Brille war und merken demnach eine spürbare Veränderung, wenn wir die Brille aufsetzen. Auch können wir die Brille beliebig oft absetzen um uns unserer Sehschwäche bewusst zu werden.
Sprache hingegen besitzen wir solange wir denken können und haben wir sie einmal als Hilfsmittel akzeptiert, können wir sie auch nicht mehr ablegen.
Wir sprechen nicht, wir werden gesprochen und der Ausdruck "Muttersprache" suggeriert genau das, dass unsere Sprache nicht uns selbst gehört, sondern jemand anderem.

Quelle: Bruce Fink - The Lacanian Subject (1996)





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