Dark Web Philosophen: Dynamit für den Diskurs



Wie spanne ich einen Diskursrahmen

In seiner Einführungsveranstaltung am Collège de France gab Michel Foucault 1970 eine bemerkenswerte Vorlesung über die Ordnung des Diskurs [engl. The Order of Discourse] in der er verschiedenste Verfahrensweisen und Prozesse darlegte, die den Diskurs formen, kontrollieren und beschränken. Der Begriff des Diskurses ist komplex, grob heruntergebrochen könnte man sagen, dass er die Gesamtheit des sagbaren darstellt und die Diskursanalyse sich damit beschäftigt wie, wann, was dazu geführt hat, dass wir denken was wir denken und sagen was wir sagen. Um ein konkretes Beispiel zu nennen, an dem sich die Regelung des Diskurses in seiner unsubtilsten Form präsentiert könnte man das deutsche Grundgesetz (oder jede andere Verfassung) nennen. Das Grundgesetz gibt uns den Diskursrahmen vor, in welchen wir uns bewegen dürfen. Jeder der diese Linie überschreitet wird sanktioniert und bestraft. Und selbst hier können schon subtile Mechanismen unseren Diskurs lenken. So können Verstöße gegen das Grundgesetz natürlich vom Staat (in Form des Bundesverfassungsgerichts) bestraft werden aber eine Verfassung lebt davon, dass die Menschen die innerhalb dieses Bündels aus vorgegebenen Werten, Gesetzen und Normen, diese auch akzeptieren. Und so kann ein Verfassungsverstoß auch mit Zuhilfenahme zivilgesellschaftlichen Engagements mit gesellschaftlicher Ausgrenzung geahndet werden, ganz ohne, dass eine staatliche Institution direkt interveniert. Wenn ich weiß, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung (oder jede andere gesellschaftliche Norm, die durch das Grundgesetz beschützt wird) allgemein gesellschaftlich akzeptiert ist werde ich den Teufel tun und mich gegen diese gesellschaftliche Norm bekennen. Je höher meine gesellschaftliche Stellung, je komplexer das institutionelle Gebilde in dem ich agiere, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich durch das subtile Geflecht aus kulturellen, ökonomischen und politischen Diskursen, beeinflusst und gelenkt werde.

In seiner Einführungsveranstaltung jedenfalls, beschreibt Foucault verschiedene, mehr oder weniger subtile, Mechanismen die den Diskurs lenken und den Bereich des sagbaren konstituieren. So gibt es z.B die Wissenschaft, die durch verschiedenste Verfahren dafür sorgt, dass nur eine sehr bestimmte Personengruppe, nämlich Wissenschafter, dazu berechtigt sind am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen.
Ein weiteres Prinzip der Rarefizierung ist laut Foucault der Autor. Nicht als Person die einen Text geschrieben hat, sondern als sinnstiftendes Symbol, dass dem Text eine Bedeutung und eine Kohärenz verleiht. Wenn wir mal einen Schritt zurücktreten und für einen kurzen Moment darüber nachdenken, welche Artikel wir lesen, welche Videos wir tagtäglich konsumieren und von wem wir unsere Informationen beziehen, dürfte wohl jeder zugeben, dass der Autor dabei immer irgendwie präsent ist. Je nach dem von wem eine Aussage kommt, messen wir ihr unterschiedliche Bedeutung zu, weil wir die Aussagen mit vergangenen Aussagen, dem Wertesystem des Autors, seiner Qualifikation und zig anderen Faktoren vergleichen. Wir unterscheiden die Israelkritik eines Rechtsextremen - zurecht - von der Israelkritik anderer Personen (selbst wenn die Aussagen absolut identisch sind) weil für uns die Intention eine wichtige Rolle spielt. Davon später mehr.


Das Verlangen nach Dynamit

Als nächstes möchte ich über ein weiters Phänomen sprechen, dass aktuell häufig und heftig Diskutiert wird, wenn auch möglicherweise unter den falschen Gesichtspunkten: Das immer weiter zunehmende Bedürfnis eben jenen Diskursrahmen zu sprengen. Wie äußert sich dieses Bedürfnis? Zwei prominente Beispiele geben darüber Aufschluss: Slavoj Zizek und Jordan Peterson.
Es wird wohl wenige geben, die nicht mindestens einen der beiden Namen gehört haben und das nicht ohne Grund. Beide werden als "Rockstars der Philosophie" und als "einflussreichste Denker der westlichen Welt" bezeichnet und beide füllen Vorlesungssääle auf der ganzen Welt. Im International Journal of Zizek Studies beschreibt Dr. Paul A. Taylor in seinem Aufsatz Why Zizek? Why Now? die Anziehungskraft, die von dem Philosophen ausgeht, folgendermaßen:

"Im Hinblick auf die medial vermittelte Öffentlichkeit sind radikale Denker gezwungen, sich auf die Suche nach Zwischenräumen zu machen, die nicht von einem überwiegend unkritischen, alarmierend selbstreferenziellen und sich gegenseitig auf die Schulter klopfenden, Medienkorps dominiert sind, die trotz der Tatsache, dass sie, wenn sie etwas anderes glauben würden, nicht dort sitzen würden (Edwards and Cromwell 2003: 90), sich immer noch mit ihrer intellektuellen und professionellen Integrität brüsten. Währenddessen ist ein stark wahrnehmbarer aber wenig diskutierter (zumindest in offizieller Funktion), aktueller Aspekt des exzessiv bürokratisierten Universitätslebens der, dass die Erforschung von Ideen um ihrer selbst willen zunehmend verteidigt werden muss. anstatt einfach der normale Ausgangspunkt eines jeden Akademikers zu sein. Wirklich neugierige Intellektuelle finden sich häufig in einer Situation wieder, die derjenigen eines gläubigen Katholiken zur Zeit der Borgias gleicht, der darum kämpft den Rosenkranz inmitten einer päpstlichen Orgie zu sprechen."


Und auch Nathan J. Robinson kommt in seiner (exzellenten) Analyse des Erfolgs von Jordan Peterson (hier auf Deutsch nachzulesen) zu einem Ergebnis, das ganz ähnliche Töne anstimmt:

"Das sollte selbst nach schnellem überfliegen seiner Texte ziemlich schnell klar werden: Wenn Jordan Peterson der einflussreichste intellektuelle der westlichen Welt ist, dann hat die westliche Welt ihren verdammten Verstand verloren. Und weil Jordan Peterson in der Tat nicht ohne Grund von sich behaupten kann, der einflussreichste Intellektuelle der westlichen Welt zu sein, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken was schief gelaufen ist. Was haben wir getan um diesen Menschen zu bekommen? Sein Erfolg ist unser Versagen und weil es so einfach ist sich über ihn lustig zu machen, ist es um so wichtiger, zu Untersuchen wie wir an diesem Punkt gelandet sind. Er ist ein Symptom. Er zeigt uns eine Kultur die jeglicher Ideen beraubt wurde, eine Politik ohne Inspiration oder Prinzipien. Jordan Peterson mag nicht der Intellektuelle sein den wir wollen. Aber er ist wahrscheinlich der Intellektuelle den wir verdienen."

Dark Web Philosophen 

Zizek und Peterson sind ein Symptom. Und lediglich die prominentesten einer langen Reihe von Philosophen, denen mittlerweile sogar ein eigener Begriff gewidmet wurde: Das Intellektuelle Dark Web (engl. Intellectual Dark Web), ein von Eric Weinstein geprägter Ausdruck, dem eine Webseite gefolgt ist, die eine Auflistung dieser ominösen Intellektuellen bietet. Dort heißt es, dass die Denker folgendes eint:

  • Ein Wille andere Leute zu debattieren, die eine andere Meinung vertreten 
  • Ideen die es Wert sind gehört zu werden 
  • Rationalität über Gefühle 
  • Das Ehren der freien Meinungsäußerung 
  • Das Ehren der Wahrheit 
  • Ablehnen von Identitätspolitik 
  • Respekt vor dem Individuum 
  • Leute, die verhindern wollen, dass sie [die Dark Web Intellektuellen] die Wahrheit verkünden 
  • Mut
Während sich der Großteil dieser Kriterien wie bedeutungsschwangeres Geschwurbel liest (Was ist Wahrheit? Wer legt fest, welche Ideen es Wert sind gehört zu werden?) sticht ein Punkt besonders her vor: Um in die Hallen der Dark Web-Philosophen aufgenommen zu werden, braucht es andere Leute die das Verkünden der Wahrheit verhindern wollen, heißt im Klartext, dass ein Philosoph erst Dark genug ist, wenn er eine gewisse Anzahl an Menschen - vorzugsweise in wichtigen Positionen - gegen sich aufgebracht hat. Es ist dabei egal welche Ideen er vertritt, ja, laut Weinstein ist ein Ausschlaggebender Punkt eines Dark Web-Philosophen sogar der, dass er die Grenzen zwischen Links und Rechts verwischt. Es kommt lediglich darauf an, den Diskursrahmen zu sprengen. Die Ideen, die Gedanken und die Philosophie mit der das geschehen soll, ist dabei eher irrelevant. Auf der besagten Webseite befinden sich, neben Jordan Peterson versteht sich, auch andere bekannte Namen, wie der Experimentalpsychologe Steven Pinker, der Stand-Up Comedian Joe Rogan, der geschasste Google-Mitarbeiter James Damore und der ehemalige Radiomoderator Dan Carlin.
Was auffallend ist, ist dass die meisten Intellektuellen entweder aus den Naturwissenschaften kommen oder überhaupt keinen akademischen Hintergrund besitzen. Philosophen sind hier unterrepräsentiert.

Und war nicht auch Trump, war nicht auch der Brexit und ist nicht auch die AfD ein verzweifelter Versuch den Diskursrahmen zu sprengen? Handelt es sich hier nicht auch lediglich um Symptome, die den Wunsch zum Ausdruck bringen, die herrschende Ordnung zum Einsturz zu bringen, sich zu erheben und statt den Bereich des sag- und denkbaren zu dehnen, ihn endgültig zum Einsturz zu bringen? Wenn ein obszöner, antiintellektueller und korrupter Milliardär als Molotov-Cocktail dient um das verhasste Washingtoner Establishment in Grund und Boden zu brennen, wenn der Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union das gesamte institutionelle Geflecht der so verhassten Eliten einreissen soll und wenn eine neoliberale-rechtsradikale Partei eine Antwort auf den gefühlten Stilstand der x-ten Großen Koalition ist, kurz: wenn die sozio-politischen Veränderungen der letzten Jahre aus dem Gesichtspunkt der Diskursanalyse betrachtet werden, ergibt nicht alles plötzlich mehr Sinn? Zumindest mehr, als wenn man den Erfolg der AfD, Trumps oder Brexit aus realpolitischer Sicht betrachtet. Eine neoliberale Partei und ein Milliardär als Antwort auf reale sozio-ökonomische Probleme? Vielleicht auch. Aber der unbewusste (oder bewusste) Drang, die institutionelle Ordnung, die den Bereich des denk- sag- und machbaren konstituiert neu zu mischen, ist ein nachvollziehbarerer Grund.

Das Internet ist für uns alle Neuland

Als Angela Merkel 2013 auf einer Pressekonferenz mit dem berühmten Satz "Das Internet ist für uns alle Neuland" von der sich ach-so-überlegenen CCC-Blase Spott und Hohn erntete, hatte sie nicht einen peinlichen faux-pas begangen: Sie hatte vollkommen recht. Die Debatten um Filterblasen, Echokammern, russische Hacker, Fake-News, Cyber-Mobbing und Depressionen durch Social Media zeigen, dass wir selbst im Jahr 2018, das Internet nicht mal im Ansatz verstanden haben.
Das Phänomen der Dark Web Philosophen ist lediglich ein kleiner Teil, in einer langen Reihe von Phänomenen, die uns das Internet beschert hat und deren Auswirkungen wir wahrscheinlich erst in ein paar Jahren richtig spüren werden.
Als Foucault davon sprach, wie Verfahren wie die der scientific-community und das des Autors, unseren Diskurs lenken, konnte er nicht wissen, dass im Jahr 2018 genau diese Verfahrensweisen aufgebrochen werden würden. Im sogenannten Informationszeitalter, benötigt niemand mehr Institutionen wie Verlage oder Zeitungen, die den Diskurs früher gesteuert haben. Man muss sich nicht mehr vom Diskurs bestimmen lassen um den Diskurs selbst bestimmten zu können. Musste man früher auf eine Journalistenschule um in die öffentliche Debatte einzugreifen, benötigt man heute lediglich einen Blog. Oder einen Youtubekanal. Ein paar klicks anstatt eine riesige institutionelle, bürokratische und diskursformende Mühle, die aussortiert und ordnet. Manche Leute hineinlässt und manche vor die Tür befördert. Heute sind wir alle drinnen, zumindest könnten wir das wenn wir wollten. Und so sind auch die sogenannten Intellektuellen des Dark Webs, keine Akademiker, sondern Podcaster und Youtuber. Entrepreneurs und Schauspieler. Einfach gesagt, Menschen die das Spiel verstanden haben.
Was Jordan Peterson so gefährlich macht ist, dass er sich einerseits durch das klassische Verfahren der Wissenschaft legitimiert hat, andererseits seine Reichweite mittels des neuen, effektiveren Instruments der digitalen Medien ausgebaut hat. Bis zu dem Berühmtheitsstatus, den er heute besitzt. Als Akademiker war er lediglich ein Psychologe den niemand kannte. Als Internetphänomen reitet er auf der Welle der Veränderung, ja, der Zerstörung. Der Zerstörung des Diskursrahmens.

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